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Textauszug aus dem Kapitel "Vom Schwätzen und Schweigen"

Worüber man nicht reden kann, redet man am liebsten

„Herrgott, höre mir zu!“, so gipfelt unser Anspruch im Gebet. Verweigert der Gott sein Ohr, verweigert er uns die Anerkennung. Er will uns nicht erkennen – als wären wir ihm nicht mehr wesensgleich. Buchstäblich ein unerhörter Vorgang. Aber vielleicht ein paradoxer Vorgang der Verständigung, indem er uns durch seine Taubheit sagt: „Sieh, Er ist ein anderer. Er ist anders als du denkst, als du hoffst, als du dir einbildest. Du solltest dir kein Bild von Ihm machen, und dennoch tatest du es. Mit dem Bild aber hast du Ihn verloren. Er ist dir niemals gleich. Du bist in dir selbst gefangen und suchst Erlösung. Er ist ohne selbst. Er ist frei und grenzenlos. Er sucht nichts, denn Er ist allimmerdar.“

Auch wenn sich der biblische Gott sehr kommunikativ gab, indem er sich durch Engel, Propheten und Heilige mitteilte und ihren Anruf erhörte, gibt es doch ein fatales Ereignis, an dem er ein Gebet verweigerte, nämlich das Gebet seiner Emanation an sich; als hätte er zu sich selbst gesagt: „Lieber Gott, nun komm mir nicht menschlich!“ Es ist das Geschehen am Ölberg, als Jesus darum betet, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge (Markus 14,35-36). Oder konnte Er in diesem Augenblick sich selbst nicht zuhören, weil er Wort und nicht Ohr war? Dabei wäre dies gerade eine Übung gewesen, die wir Menschen tagtäglich vollziehen, nämlich Wort und Ohr in einem zu sein. Denn eine Vielzahl der Gespräche, die wir führen, dienen nur dem Zweck, uns selbst zu überzeugen. Wir reden unserem Nächsten in die Seele hinein, um uns dadurch selbst zu umschreiben, zu begreifen und zu verstehen und um uns letztlich im anderen festzusprechen, uns in ihm durch unsere Rede zu duplizieren. „Fortpflanzung im Geiste, Mentorenschaft“ nennt man dies, was nicht minder Erotik als der geschlechtliche Akt birgt. Das Gespräch dient sowohl der Selbstfindung als auch der Selbstzentrierung. Manch einer fließt förmlich über und kommt aus dem Schwatzen nicht mehr heraus. Er beredet die Welt, um sie zu erfassen, er spekuliert über alles und nichts, um sie sich endgültig zu erschwatzen und vorstellbar zu machen. Er findet immer neue Sätze für den gleichen Sachverhalt. Das ist nicht nur redundant, sondern fußt auf der uralten Magie des Beschwörens durch Bereden - was mit dem Palaver am Lagerfeuer begann, mit dem sich unsere Ahnen die Welt erklärten und ihre Furcht vor dem Unbegreifbaren übertönten.

Reden, reden, um sein Leben reden. Ein Mensch, der diesem atavistischen Impuls nachgibt und nicht mehr an sich halten kann, den seine Rede mit sich reißt wie ein überschwellender Wildbach, leidet an Logorrhoe. Die Ursachen hierfür sind verschieden. Einsamkeit, Zwanghaftigkeit, Ichschwäche als auch Ichsucht spielen häufig mit hinein, ebenso der seltsame Wahn, eine Angelegenheit auf den Punkt getroffen sprechen zu können, als ob ein Punkt der Gipfel der Erkenntnis wäre. Dabei ist er, wie wir aus der Geometrie wissen, ein gedachtes Objekt ohne jede Ausdehnung, also unerreichbar. Weswegen am Ende auch nur ein unerfülltes Gefühl zurückbleibt, sobald wir uns auf eine solche unsinnige Spitze salbadert haben. Daneben scheint die Logorrhoe als Störung vor einem psychopathologischen Hintergrund auf, in milderer, beinahe verträglicher Ausbildung ist sie jedoch alltäglich: so die Schwatzsucht im Treppenhaus, in der Kantine, am Stammtisch, überall begegnet sie uns, und manchmal sind wir es selbst, die andere in Grund und Boden reden. Es sind Momente narzisstischer Wonne, denn kurzfristig werden wir durch unser Wort zum Schöpfer. Es ist zugleich eine wiederkehrende Situation zwanghafter Ichfindung und Icherhaltung. Das können durchaus kreative Momente sein, in denen echte Innovationen ersonnen werden. Am schönsten aber gestalten sie sich, wenn wir das Fassbare verlassen und den irdischen Niederungen entfleuchen, um über Gott und seine Welt zu philosophieren. Hier bekommen wir guten Wind unter die Flügel und triften in unbekannte Sphären. Doch selbst wenn wir uns mit unserer Rede bis an das Tor der Transzendenz plappern, ja, wenn wir für den Augenblick gar glauben, jetzt müsste nur noch das krönende Wort gesprochen werden, auf dass das Ich verglühe und der Heilige Geist in uns führe, ja selbst dann schwätzen wir uns nur weiteren Ballast ans Ego. Ich weiß, wovon ich spreche, ich stand mit meiner Rede schon mehrmals vor der Himmelspforte und stürzte böse ab in das kühle Grau meines Ichs. Auch durfte ich schon einigen Freunden zuhören, wie sie sich bis an die Pforte zur Seligkeit schwatzten und nicht mehr still wurden, weil ihr Ich mit ihrer Rede hinübergleiten wollte, dorthin, wo ihm niemals Einlass gewährt werden wird.

Da wird die Grenze zum Jenseits in einer unerbittlichen Weise sichtbar. Sie ist die unsichtbare Wand, an der wir uns den spirituellen Hals ein ums andere Mal brechen. Es gibt kein Hinüber. Hier ist die Welt, unsere Welt, zu Ende. Hier wird jede Rede nur zum Echo, mit dem wir unser Selbst betönen und übertönen, um letztlich bis zur Taubheit beschallt und trunken vom Getöse das Tosen selbst für die Stimme des Höchsten zu halten. Dabei handelt es sich nur um einen spirituellen Tinnitus! Womit wir schon wieder beim Hören wären. Es ist eben doch das Hören, das frommt und eine Rede macht. „Die Worte klingen im Munde anders als im Ohr“, so eine alte jüdische Weisheit. Und im Munde schmecken sie wohl süßer, als sie im Ohr klingen. Vielleicht ist die Schwatzsucht samt ihrer bedingten Taubheit auch nur der Versuch, den divergierenden Klang zwischen Mund und Ohr zu synchronisieren und zu harmonisieren, damit unsere Gebete erhört werden – auch jene Gebete, die wir nicht sprechen, weil wir skeptisch geworden sind, ob Er sie auch erhört, oder weil wir nicht daran glauben wollen, dass Er etwas kann, was wir nicht können: nämlich vollkommen zuzuhören.

Kann unser Wort den Raum beschwingen? Wenn ja, schwänge unser Bild im Sein. Nein, nicht unser Bild, wir selbst schwängen mit dem Raum. Das wäre jener erhoffte Übertritt, bei dem das Ich vor der Wand bleibt und das Unerkannte die Grenze übertritt, weil es vom Raum dahinter erkannt wurde. Es, das ist das Unerkannte im Hier und Jetzt irdischer Dichte, das, was uns beseelt, uns belebt, unser Urselbst oder wie Sie es nennen mögen. Nur nennen Sie es bitte nicht den Seelenfunken. Das ist eine planierte Plattheit aus gnostischen Zeiten und hat zu den irrwitzigsten Spekulationen der Religionsgeschichte geführt. Es war das Zeitalter der wahren Gottesschwätzer, bezeichnenderweise kurz nach der abendländischen Zeitenwende. Diese schwätzten sich jeden Tag einen neuen Gott herbei, beschwörten ihn, verbrauchten ihn und erniedrigten ihn am nächsten Tag zu einem Dämon. Halten Sie sich darum besser an den milderen Bruder im Geiste der Gnosis, an den Christus, der in seiner Bergpredigt meinte: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ (Matthäus 5,37). Womit er das Schwören meinte und es abkanzelte; besonders wohl jene Art der Gottesbeschwörung, wie ich sie beschrieb, jenes Hineinschwätzenwollen ins Paradies. Die Pfingstgemeinden pflegen es auf ihre Art. Sie halten sich nicht mehr mit logischen Kettenreaktionen auf, sondern reden in Zungen; das heißt: Sie plappern und lallen sich in Trance und glauben, dass dann der Herrgott aus ihnen spräche. Da wird dann munter prophezeit und allenthalben auch mal das Ende der Welt verkündet. Andere greifen bibelfest nach Klapperschlangen, um vom Geist beseelt gegen Schlangenbisse immunisiert zu sein. Da endet dann so mancher Absturz aus himmlischer Höhe nicht mehr im grauen Ich, sondern in tödlicher Finsternis.

Doch bleiben wir beim „Ja, ja“ und „Nein, nein“ der christlichen Forderung. Was also sollen wir dem Gott erzählen, dem Allwissenden, dem wir im Grunde ohnehin nichts mehr erzählen können? „Ja, ja, nein, nein“ ist die Rede der Wahrheit. Da gibt es kein Um-den-heißen-Brei-Reden, da gibt es nur Offenheit. Diese Forderung wird zuallererst uns selbst aufgetragen. Wie reden, wie denken wir mit uns selbst? Wie belügen wir uns selbst, damit wir die „Lüge“ schamlos in die Welt setzen können? Wieder ist es unser Selbstbild, das uns hierbei lenkt. Wieder ist es ein Vorgang, der so vielschichtig verschleiert, was wir verschleiern müssen, da wir sonst die elende Sinnfrage in einer unerbittlichen Weise beantwortet bekommen, die wir so nicht wünschen und nicht hören wollen. „Du bist in dir, und nicht in mir“, so die göttliche Botschaft. Nein, das ist nicht einmal Seine Botschaft, es ist das tiefe Wissen in uns selbst, dass dem Ego eigene Wissen, dass es Fiktion ist. Das Wissen um die eigene Nichtigkeit aber ist gewissermaßen ein Tod. Es ist das brutale Ende jeder Illusion um Fortleben, Weiterwähren, Erkenntnis oder Erleuchtung. Hier käme nur noch die schlichte Aussage: „Ja, Ich ist nicht. Du bist alles.“ Und auch sie wäre noch unwahr, wäre noch verschleiert, eine Anmaßung des Ichs, denn das Du ist unerforschlich, unerkennbar.

Hier macht die Nichterhörung unserer Gebete, das Unerhörte, die verweigerte Kommunikation, plötzlich Sinn. Der Gott, der unser Ich alleine lässt, der es nicht aufnimmt, der es dort lässt, wo es ersonnen wurde, wo es Funktion besitzt, der es ins irdische Jammertal verweist – dieser Gott ist ein barmherziger Gott. Denn Er spricht ehrlich mit uns, indem Er nicht mit uns spricht. „Du wirst mich niemals hören, also werde ich nie ein Wort an dich richten!“ Selig wir, wenn unser Gott so mit uns spricht. Seine Nicht-Kommunikation ist die schönste und höchste Form spiritueller Kommunikation. Ja, Er hat uns bis auf unseren tiefsten Grund erkannt. Erkennen wir dies, nehmen wir sein Erkennen auf; gehen wir da hinein, werden wir womöglich still und unser Durst versiegt. Dann mag uns die Nichterhörung unserer Gebete zur Läuterung werden, dann wird das Ich verstummen und sich von der Transzendenz ab- und dem Diesseits zuwenden. Es wird dann ganz dort sein, wo es ist. Es wird angekommen sein. Und diese Ankunft wird eine ganze eigene Art von Erleuchtung sein. Nicht mehr das Höchste wird uns verklären, sondern das schlichte Dasein und Nichtsein. Ein solches Ich wird nicht mehr panisch und von Todesangst gebeutelt sein, sobald es ruht, sich selbst vergisst und die Stille nicht unterbricht, die statt seiner schwingt. Dieses Ich hat sich selbst erkannt. Es wird da sein, wenn es notwendig ist, und es wird ruhen, wenn die Handlung beendet ist. Da ist dann niemand mehr, der beispielsweise ein Abendrot betrachtet und jubelt und die gesehenen Farben in Gedanken benennt. Da ist Sehen und Freude und kein ergreifender Gedankenschwatz. Da ist auch kein Gebet mehr, da ist nur noch Schweigen.

In diesem Augenblick beginnt die stille Zwiesprache mit dem ganz anderen. Benennen wir es nicht, es ist unnötig, weil nicht für Sinn und Verstand. Diese Zwiesprache ist Schweigen. Schweigen hie wie da. Ein unbändig kommunikatives, weil lebendiges Schweigen …

 

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